Die Frage mag absurd klingen, niemand würde die Frage danach stellen, ob München Bayern ist oder Prag die Tschechei. Bei Leuten die in die Mongolei reisen scheint das anders zu sein. Redet man mit potentiellen Mongoleitouristen über die bevorstehende Reise, dann hört man den Nebensatz, Ulaanbaatar wollte man insbesondere recht schnell hinter sich lassen, weil man in die echte Mongolei will. Auch viele Reisereportagen beginnen damit, dass man jetzt raus fährt in die wirkliche Mongolei. Klar mag das daran liegen, dass der klassische Mongolei-Tourist das Traditionelle und die Natur sucht und er eine ganz persönliche Perspektive auf die Mongolei hat, aber daraus hat sich schon fast eine Gewissheit entwickelt, es gibt da Ulaanbaatar und dann kommt die richtige Mongolei. Lässt sich so eine These untermauern? Ich sage nein. Ulaanbaatar ist bei Leibe keine Retortenstadt, sie wurde zwar bis 1989 maßgeblich von sowjetischen Planern, ich sage bewusst sowjetischen, denn das Russische war in der Sowjetunion ja nur ein Teil der Einflüsse, in Ulaanbaatar waren auch Kasachen, Moldawier oder Georgier am Werken, sie wurde also sowjetisch gestaltet aber nach 1990 war das dann auch vorbei. Das was von 1990 bis heute planerisch und baulich passierte, das ist im Wesentlichen hausgemacht, es ist das Ergebnis mongolische Stadtplaner und Bauherren. Diese Gebäude hat niemand von außen den Mongolen dorthin gestellt, wie das manche Reportage vermitteln will. Der Mongole lebt sehr wohl und auch gern im 15. Stock eines Hochhauses, selbst wenn er vielleicht in einer Viehzüchter Jurte geboren wurde. Er hat aber auch gern seine Datsche, ein kleines Stück Land am Stadtrand, wo er im Sommer wohnen möchte. Das der Mongole, selbst der ländliche, trotz aller Klischees kein Problem mit Enge hat, sieht man auch auf dem Lande wenn man sich mal so ein Kreiszentrum anschaut, wo sich Jurte an Jurte reiht oder bei dem klassischen Geschiebe und Gedränge sobald sich mal mehr als einhundert Mongolen zusammenfinden. Man kann also erst mal konstatieren, zumindest ist diese Stadt das, was sich Mongolen unter einer Metropole vorstellen, natürlich immer gemessen an den Möglichkeiten.
Das war also sozusagen die Hülle, schaut man sich jetzt die Bewohner an, so muss man ganz klar sagen, das ist der gesamte Querschnitt des Landes. Die Hälfte der Landesbevölkerung, also keine Elite oder besondere Gruppe lebt hier. Von dieser Hälfte aller Mongolen wiederum ist die Hälfte gerade mal in den letzten 25 Jahren in diese Stadt gezogen, täglich kommen ganze Viehzüchterfamilien dazu. Natürlich wohnen viele davon erstmal in einer Jurte am Stadtrand, aber die cleversten unter ihnen schaffen es auch schnell in eine Stadtwohnung und zu einem urbanen Leben, in dem sie aber kaum auffallen. Nun gibt es wiederum europäische Reisende, die dann sagen, das ist ein ganz anderer Menschtyp in dieser Stadt. Auf dem Lande sind die Leute so gastfreundlich und in der Stadt doch so unfreundlich, dem würde ich aber auch entschieden wiedersprechen wollen. In der Stadt kommt der Tourist ja wohl eher mit der Verkäuferin, dem Kellner oder dem Mitarbeiter im Hotel zusammen, also professionellen Dienstleistern und dafür sind nun mal Mongolen generell nicht auf die Welt gekommen, sie machen diese Jobs, aber eben nur gerade so gut, dass es keinen Ärger gibt. Wie sieht es aber mit der Gastfreundschaft auf dem Lande aus, die existiert schon, aber sie basiert auf Traditionen und sie ist aber auch ganz einfach eine willkommene Abwechslung im Alltag der Viehzüchter. Im Grunde genommen verhält sich der Mongole in der Stadt kaum anders als der Viehzüchter auf dem Lande nur ist der Zugang des Reisenden ein ganz anderer.
Betrachtet man die ganze Stadt-Land Diskussion mal aus der kulturellen Perspektive, wobei ich in dem Fall kulturell als künstlerisch-kulturell verstanden wissen will, dann ist Ulaanbaatar eher das Herz als der Fremdkörper. Die mongolische Volkskunst, ob es der Obertongesang, die klassischen Instrumente oder die Malerei sind, ist heute eher das Produkt einer langwierigen Ausbildung als die Weitergabe von Fertigkeiten unter den Generationen einer Jurte. Um es mal ganz klar zu sagen, man wird auf dem Lande so gut wie gar keinen wirklich guten Obertonsänger oder eine perfekte Pferdekopfgeigenspielerin finden, ich habe in all den Jahren noch nicht einmal ein solches Instrument in einer Jurte liegen sehen. In dieser Frage geht der Punkt sogar ganz eindeutig nach Ulaanbaatar, wer traditionelle Musik auf hohem Niveau erleben möchte, der muss sich einfach in Ulaanbatar umsehen.
Die Stadt hat sich auch sonst auf ihre eigene, mongolische Art entwickelt. Sie stand kaum im Interesse internationaler Firmen oder Ketten. Die beiden Burgerbrater aus Übersee, zum Beispiel, hatten die Stadt 20 Jahre lang völlig ignoriert und die Mongolen haben ihre eigene Vorstellung davon entwickelt, Khaan Buuz war eine typisch mongolische Alternative. Wenn man auch heute mehr und mehr den langweiligen weltweiten Einheitstrends die Möglichkeit gibt sich festzusetzen, so kann man selbst da noch etwas typisch mongolisches erkennen, nämlich die Tatsache, dass man die Vielfalt zulässt. Man legt sich nicht darauf fest, ob man nun eher dem europäischen, amerikanischen oder koreanischen Style folgen will. Bei den Kaffees ist man voll auf Korea eingestellt, die Kneipen wollen eher tschechisch oder deutsch daherkommen und bei den Fastfood Läden geben mittlerweile doch die Amerikaner den Ton an und alle haben eines gemeinsam, die sagen wir mal, mongolische Art des Personals, was insbesondere bei den koreanischen Kaffees dazu führt, dass man merkt, man ist garantiert nicht in Korea. Sehr schnell hat man da in UB den Spruch „Willkommen bei… und den kleinen unterwürfigen Diener weggelassen, wenn ein Mongole das schauspielert wirkt es einfach nur makaber.
Zu guter Letzt muss man sogar konstatieren, selbst das Bild vom Leben als Nomade erfüllt der Hauptstädter zutreffender als der Viehzüchter im Changai. Der ist nämlich eher ein mit seiner unmittelbaren Heimat verbundener standorttreuer Zeitgenosse, er zieht von dem Sommer- in das Winterlager, sucht im Frühjahr noch ein auf Sichtweite stehenden Standort auf und das ganze läuft dann Jahr für Jahr immer wieder so ab. Am Ende seines Lebens hat der Viehzüchter im Changai gerade mal drei oder vier wirklich unterschiedliche „Wohnungen“ gehabt und seine weitesten Wege haben ihn ins Bezirkszentrum geführt, den sehr seltenen Besuch in der Hauptstadt mal außen vorgelassen. Und der Hauptstädter, der lebt den Nomaden förmlich aus, zum Studium nach Europa, dann mal ein paar Jahre in Korea oder den USA gejobbt. Ist er wieder zurück, wird sobald es die Gelegenheit ergibt nach Peking geflogen oder am Wochenende mit dem Zelt und dem Geländewagen irgendwo draußen zum Picknick und feiern gefahren.
Um jetzt wieder zur Ausgangsfrage zurückzukommen, ist Ulaanbaatar die Mongolei? Es ist vielleicht nicht das, was der Tourist für zwei Wochen sucht, wenn er Mongolei gebucht hat, aber es ist natürlich die Mongolei. Es ist nicht nur das wirtschaftliche Herz, es sind auch nahezu alle lebenswichtigen Organe. Es ist der Kopf, von hier aus wird nahezu alles gedacht, was irgendwie für das Land wichtig ist. Selbst wenn eine kleine Brücke irgendwo 1000 Kilometer im Westen kaputt geht, wartet der Bürgermeister dort, ob jemand aus Ulaanbaatar kommt und das Ding wieder in Ordnung bringt und die Stadt ist der Garant dafür, dass überhaupt noch Leute mit ihren Jurten und ihrem Vieh in der Steppe ein Auskommen haben. Davon abgesehen, gibt es Viehzüchter die in Jurten lebend, die Steppen beweiden in Kasachstan, in Kirigisien, in China und vielen angrenzenden Bereichen, Ulaanbaatar gibt es aber wirklich nur einmal, also ja, Ulaanbaatar ist die Mongolei!